Regiestatement
Fast vier Jahre sind vergangen, seit ich anfing, Grain zu drehen. Während dieser langen Zeit bin ich einer Welt begegnet, die sich in vier Jahren vierzigmal gewandelt zu haben schien. Der Film beruht auf einer Geschichte, die in einer unbestimmten Zukunft spielt, einer Zukunft, in der die Menschheit versucht, Wege zu finden, mit einer Reihe andauernder Kriege zurechtzukommen, mit durch Klimawandel bedingten Umweltkatastrophen, mit tödlichen Grenzen, die errichtet werden, um Flüchtlinge zu vertreiben, und mit dem Chaos, das durch genetisch verändertes Saatgut hervorgerufen wird.
Bevor ich mit den Dreharbeiten für Grain anfing, suchte ich nach einem Drehort, der den Ruinenlandschaften von Detroit ähnelt. Dabei begegnete ich vielen Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten. Später – im Laufe des Drehs – traf ich an mehreren Orten im türkischen Anatolien auf unzählige Flüchtlinge aus Syrien. Um die gleiche Zeit sah ich auch, wie von Armut geplagte Menschen versuchten, auf den eiskalten Straßen Stockholms zu überleben, und ich begriff die unsichtbaren und doch sehr realen Grenzen dieses Kontinents. Die Geschichte des Films überschneidet sich mit der heutigen Realität.
Grain erzählt die Geschichte der Reise zweier Männer, die auf der Suche nach unmanipuliertem Saatgut durch Landschaften reisen, die ihre lebenspendenden Eigenschaften verloren haben. Dabei entdecken sie die inneren Zusammenhänge ihrer eigenen Existenz. Sie laufen durch Gebiete, deren Bewohner Durst und Hunger leiden und mit desaströsen Infektionskrankheiten und verseuchtem Boden zu kämpfen haben. Während der Pausen, die sie auf ihrem Weg einlegen, begegnen sie ausgesetzten Kindern und Menschengruppen, die durch genetische Mutationen entstellt sind. Ihre Reise zwingt sie dazu, die inneren Wüsten des Egoismus, Stolzes und Nihilismus zu durchqueren und sich einen Weg durch einen Sumpf aus Ehrgeiz und Habgier zu bahnen. Als Erol, der bis jetzt immer nach dem Prinzip „ich zuerst“ gehandelt hat, seinen Weggefährten Cemil besser kennenlernt, wird er mit einer Lebenseinstellung konfrontiert, die auf Geduld und Ausdauer beruht, auf Zufriedenheit durch Selbstlosigkeit. Ist es nicht ein Grundprinzip des Reisens, dass Weggefährten auf die Bedürfnisse des anderen achten und sich auf sie einstellen? Was wird aus ihrer Suche nach unmanipuliertem Saatgut? Kann die verstreute Saat der Menschheit in dieser Welt aufgehen? Führt diese Reise an ein Ziel?
(Semih Kaplanoğlu)